Wenn ihr eine Geschichte schreiben wollt, die nicht gleich im Mittelalter spielen soll, aber vielleicht irgendwann im neunzehnten oder zwanzigsten Jahrhundert, können euch alte Zeitungen helfen, die Zeit besser kennenzulernen. In den Geschichtsbüchern findet man meistens nur die großen Dinge, die politischen Ereignisse, die Könige, Kriege und Katastrophen, aber nicht so viel darüber, wie die Leute lebten, dachten, fühlten. Natürlich wurde auch früher in den Zeitungen vor allem über das Weltgeschehen berichtet, aber es gab immer auch Artikel über gesellschaftliche Ereignisse (Baron Balduin hat sich verlobt! Mit einer Bürgerlichen! Was für ein Skandal!) und andere Sachen, die heute unwichtig erscheinen mögen, aber damals Tagesgespräch waren.
Auch, wie über die Ereignisse berichtet wurde, ist sehr interessant - solltet ihr zum Beispiel Zeitungsartikel aus der Zeit des Dritten Reiches lesen, müsst ihr damit rechnen, dass sich euch der Magen umdreht bei der Hitlerverehrung und dem Judenhass, der euch da aus der Zeitung entgegenschlägt. Hetze gegen andere Länder oder politische Gegner in einer Direktheit, zu der sich heute noch nicht einmal die Bildzeitung traut, all sowas kann euch begegnen, deswegen nehmt einen wachen Verstand mit und lest zwischen den Zeilen, um die Wahrheit herauszufinden.
Aber das Interessanteste ist die Werbung, die Klein- und Todesanzeigen. Was wird beworben, und wie? Da kann zum Beispiel eine Reklame nach der anderen für Haarwuchsmittel sein (es gab Zeiten, da waren die Leute ganz besessen von solchen Tinkturen und Wundermitteln), oder Hautcremes, oder Nahrungsergänzungsmittel, die einem versprechen, innerhalb eines Monats zehn Kilo zuzunehmen, weil das Schönheitsideal eben nicht wie heute das Klappergestell war, sondern die Wohlstandspfunde, die der Welt zeigen, dass man es sich leisten kann, gut zu essen. Man bekommt auch ein Gefühl dafür, was die Sachen früher gekostet haben, wenn die Werbung den empfohlenen Ladenpreis nennt.
Aus den Todesanzeigen kann man sehen, wie alt die Leute so im Schnitt wurden und auch, woran sie gestorben sind - heute weiß kaum jemand, dass früher unglaublich viele Kleinkinder am Keuchhusten gestorben sind oder an den Masern, und nicht an Scharlach oder Tuberkulose, wie man vielleicht meinen sollte. Und die Kleinanzeigen können ganz interessante Sachen verraten - so habe ich bei einer Recherche über England Anfang der Zwanzigerjahre zu meiner großen Begeisterung gesehen, dass die Kleinanzeigen eine eigene Rubrik hatten für gebrauchte falsche Zähne. Opa ist gestorben, spül sein Gebiss gut ab, das finanziert seine Beerdigung, und er braucht es ja nicht mehr… Das verrät sehr viel darüber, wie die Leute damals getickt haben.
Wie kommt man an so alte Zeitungen? Manchmal hat man das Glück, dass man sie online findet, aber die ersten Anlaufstellen für so etwas sind Universitätsbibliotheken, Stadtarchive, oder man fragt direkt bei der Zeitung an, telefonisch oder per Mail, wo denn das Archiv ist und wann das geöffnet ist. Diese Archive stehen jedem Interessierten offen, so muss man zum Beispiel kein Student sein, um in seiner Stadt in die Unibibliothek zu gehen. Wenn ihr nicht zugeben möchtet, dass ihr für einen Roman recherchiert, habt ihr als Jugendliche den Vorteil, dass ihr nur etwas von Hausaufgabe, Referat, Projektarbeit murmeln, und jeder wird euch helfen, an die nötigen Informationen zu kommen.
Mit den alten Zeitungsbänden wird man euch nicht unbedingt allein lassen wollen, weil das alte Papier brüchig wird, photokopieren ist oft nicht erlaubt, weil der Einband beim Auf-den-Kopierer-legen brechen kann, aber meistens darf man Artikel abfotographieren, oder die Archivare verschaffen euch Abzüge der gewünschten Artikel. Das kann ein bisschen Geld kosten. Nehmt Schreibzeug für Notizen mit. Eventuell werdet ihr es auch nicht mit gebunden Zeitungen zu tun haben, sondern mit abgefilmten, für die ihr ein Microfiche-Lesegerät benutzen musst (dann wird euch aber jemand zeigen, wie das funktioniert). In jedem Fall ist es spannend, mit alten Zeitungen zu arbeiten - man weiß nie, was man findet, aber man kann eigentlich alles irgendwie brauchen.